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Stimmen aus der Asche.txt
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Stimmen aus der Asche
Die Welt war in Graustufen getaucht. Der asphaltgraue Himmel hing niedrig. Die Gebäude zeigten verschiedene Grade der Zerstörung und alle Schattierungen von aschgrau bis kohlschwarz. Die grauen Straßen hatten schwarze Risse und schmutzig-weiße Flecken von etwas, das vor kurzem noch Schnee gewesen sein musste. Die wenigen Überreste von Vegetation waren düstere Gerippe.
Jeremias war ziemlich sicher, dass sich die Stadt jedem ihrer wenigen Besucher so präsentierte. Andererseits konnte es auch am Thelxinoin liegen, dass er keine Farben sah. Die Nebenwirkungen waren nicht immer berechenbar. Doch das war es wert, denn seine Aufmerksamkeit und seine Reflexe waren auf ihrem Maximum. Zügig, aber ohne Hast, folgte er der schnurgeraden, mehrspurigen Hauptstraße Richtung Zentrum. Er brauchte keine Navigationshilfe; er erkannte alles wieder - auch wenn in seiner Erinnerung natürlich Menschen, Tiere und Fahrzeuge der Stadt farbenfrohes Leben einhauchten. Doch gerade dieses Leben, seine gedankenlose Dekadenz, seine beiläufige Grausamkeit, hatte ihn die Stadt hassen gelehrt und schließlich zu ihrem Untergang geführt.
Er gelangte an einen weitläufigen Platz mit einem Sockel in der Mitte, auf dem einmal eine Statue gestanden hatte. Er hielt sich links. Der Hauptsitz von Cygnus Corp war nur noch wenige Blocks entfernt. Er konnte es sich jetzt nicht mehr leisten, die Aktion zu hinterfragen, aber er wusste, dass er möglicherweise umsonst gekommen war; er war sich der einen großen Unbekannten bewusst - dass jemand ihm zuvor gekommen sein konnte. Die meisten Menschen, die vom CX-34/b gewusst hatten, waren zwar im großen Inferno umgekommen, aber vielleicht gab es noch jemanden wie ihn, der von dem Schatz, der hier schlummerte, erfahren und sich auf den beschwerlichen Weg gemacht hatte.
Das Firmengebäude war kaum noch zu erkennen, aber die Grundstruktur stand noch. Es war definitiv möglich, den Bau zu betreten - unter Lebensgefahr, versteht sich. Der Haupteingang war von herab gefallenen Trümmern blockiert, doch nach kurzer Suche fand Jeremias ein Seitenfenster, durch das er in einen verwüsteten Büroraum und von dort in einen Korridor gelangte. Er folgte ihm im Schein seiner Taschenlampe. Immer wieder musste er herum liegenden Trümmern ausweichen. Schließlich hatte er sich bis zu einem Treppenhaus durch geschlagen. Die eigentliche Treppe war zwar unbenutzbar, aber er schaffte es, durch die Öffnung nach unten zu klettern. Im Keller war die Zerstörung weniger groß, und nach kurzer Suche hatte er den Raum gefunden, in dem sich sein Ziel befinden sollte. Mit klopfendem Herzen machte er sich daran, die Schränke und Kisten zu durchsuchen.
Doch vergeblich. Nach einer halben Stunde hatte er alles mehrfach durchsucht und nichts von Interesse gefunden. Seine aufkommende Unruhe bekam einen Beigeschmack von Panik. Er weitete seine Suche auf den gesamten noch begehbaren Teil des Kellers aus. Nichts. Mit wachsender Verzweiflung kletterte er wieder nach oben und suchte das Erdgeschoß ab, und schließlich bahnte er sich einen Weg nach oben ins erste Stockwerk. Er kam immer langsamer vorwärts und musste immer mehr aufpassen, nicht auf eine brüchige Sektion im Boden zu treten oder in eine der vielen anderen Todesfallen zu tappen. Er war so vertieft darin, ein gähnendes Loch im Boden vor einer Türöffnung zu umgehen, dass er zuerst gar nicht bemerkte, dass jemand in dem Raum, der zur Tür gehörte, saß. Eine Frau. Und er kannte sie.
Sie saß im Lotossitz mitten im Zimmer, zwischen einem rußigen Metalltisch und einem weiteren Loch im Boden. Sie hatte die Augen geschlossen. Das fahle Licht, das durch die zerstörten Fenster herein schien, zeichnete Schatten auf ihr Gesicht. Sie trug einen einfachen knöchellangen Rock und eine Strickjacke über einer Bluse - die wahrscheinlich unpraktischste Kleidung für diese Umgebung.
Beinahe gemächlich öffnete sie ihre Augen. Das schwache Leuchten ihrer optischen Implantate war im Halbdunkel deutlich zu sehen.
"Du bist auch zurück gekehrt." bemerkte sie.
"Ja." Es war keine Frage gewesen, aber Jeremias wusste nicht, was er sonst sagen sollte. Dann sammelte er sich ein wenig. "Was machst Du hier?"
"Ich nehme auf." Ihre Stimme war fest, aber sie klang wehmütig. "Es ist noch so viel übrig. Wir dachten natürlich, die Zerstörung sei vollständig gewesen." Sie lachte abfällig. "Was für ein Unsinn. Wir waren geblendet von den Flammen, betrunken von unserem Erfolg. Was ist schon jemals vollständig zerstört worden? Und es sind nicht nur die rohen Wände, die Gerippe der Stadt, die groben Strukturen, die noch da sind. Es laufen noch Maschinen, Rechner, Datenbanken, Schaltstellen, Sender... Die Stadt ist nicht tot. Sie mag verwundet sein, sie hat sich zurück gezogen, aber sie ist am Leben. Und sie spricht zu mir. Sie spricht von der Vergangenheit, vom Untergang und von der Auferstehung. Sie spricht mit den Stimmen von Politikern, Wissenschaftlern und Hausmeistern; sie spricht deutsch, englisch und 802.11p.
Und ich kann zwar nicht viel für sie tun, aber ich kann zuhören."
Jeremias runzelte die Stirn. "Das klingt, als würdest Du es bereuen."
"Ich würde eher sagen, das Ausmaß dessen, was wir getan haben, hat mich eingeholt. Wie viele wertvolle Projekte haben wir vorzeitig beendet? Wie viele Beziehungen waren gerade am Aufblühen? Wie viel hätte jeder einzelne von all den Menschen in seinem Leben noch erreichen können? Es wäre eine völlig andere Welt gewesen."
Jeremias schüttelte den Kopf. "Es war im besten Fall nichtig und im schlimmsten bösartig gewesen, was diese Menschen hier getrieben haben. Ich habe mich selbst unzählige Male davon überzeugt. Sie haben gegen jedes Gesetz und gegen jedes Gebot von Moral und Ethik gestoßen. Sie haben auf Nächstenliebe und Selbstlosigkeit gespuckt. Ihr Dichten und Trachten war böse von Jugend an."
"Ich weiß, dass du es so siehst", seufzte sie. "Mir war es gleich gewesen, oder doch willkommen, weil es dich auf unsere Seite gebracht hat. Aber das war vorher." Sie machte eine kurze Pause. "Natürlich ist hier viel Schlimmes passiert. Ich höre jetzt noch Echos davon. Aber das würde ich in jeder anderen Stadt auch. Das ist die Natur einer Stadt - viele Menschen auf kleinem Raum; viel Potential für Probleme, Ungerechtigkeit, Grausamkeit; aber auch viel Potential für Kooperation, Gemeinschaft, Kultur... für Menschlichkeit. Was, wenn ich Dir *einen* guten Menschen in der Stadt gezeigt hätte - wäre es gerecht gewesen, dass er mit den anderen büßt? Oder wenn jeder in der Stadt in seinem Leben auch nur eine gute Sache getan hätte? Oder noch tun würde, wenn wir es nicht verhindert hätten? Das sind Entscheidungen, die man als Mensch nicht treffen sollte."
Jeremias bemerkte, dass ihre Hand beim Wort "Mensch" unwillkürlich über ihr Auge fuhr, wo ein visuelles Implantat matt glühte.
Das Unangenehme war, dass er ihre Argumente durchaus nachvollziehen konnte. Aber er konnte es sich nicht leisten, jetzt alles noch einmal in Frage zu stellen.
"Manchmal muss der Mensch als Werkzeug einer höheren Instanz agieren. Die Zeichen waren eindeutig. Das Glück ist mit den Entschlossenen."
"Wenn man so will habe ich auch für eine höhere Instanz gehandelt. Du würdest sie vielleicht 'Mammon' nennen. Es ist auch nicht so, dass ich jetzt plötzlich einem anderen Herrn diene. Ich würde nur nicht mehr so weit gehen wie vorher. Ich würde wetten, dass keiner von uns mehr genau so denkt und fühlt wie vor dem Inferno. Sag nicht, dass es dich nicht verändert hat."
Er dachte kurz nach.
"Etwas hat sich wohl verändert, sonst stünde ich nicht hier."
Sie lächelte wissend. "In der Tat. Es hat mich ja schon etwas gewundert, dass du gekommen bist; oder genauer gesagt, weswegen du gekommen bist. Was bedeutet dir dieses Ding? Oder ist es wirklich nur der materielle Wert?"
Jeremias stutzte. Wie viel wusste sie über sein Vorhaben?
"Es ist in vieler Hinsicht wertvoll", sagte er vorsichtig. "Weist du, wo es ist?"
"Wenn du zuhören würdest, wüsstest du es auch."
The cyborg burns the city with the drug user.